Zunächst die schlechte Nachricht: Pinegrove reihen sich ein in eine lange Liste an Musikern, die in den letzten beiden Jahren der sexuellen Nötigung beschuldigt wurden. Sänger Evan Stephens Hall war der Grund für die einjährige Funkstille und den verzögerte Release des aktuellen Albums Skylight, das erst im Dezember letzten Jahres erschien. Aber, so die gute Nachricht: Pinegrove sind eine der wenigen Bands, die nach einigem Abstand und einer reflektierten Entschuldigung wieder volle Kraft voraus fahren können. Zwischen Skylight und dem für später im Jahr angekündigtem Follow-Up Marigold stopfen die Jungs und Mädels aus Montclair, New Jersey eine US- und Europa-Tour, die sie unter anderem ins Gleis 22 nach Münster führt.
Den Abend eröffnen Snow Coats aus den Niederlanden, die als Support für „ihre Lieblingsband“ ihr neues Album Take The Weight Off Your Shoulder promoten dürfen. Ihr locker-flockiger, frisch-fröhlicher Mix aus Indie-Folk und Country ist zwar kein soundtechnisches Neuland, live aber schön anzusehen/hören. Besonders Sängerin Anouks charmante Nonchalance, mit der sie zwischen Akustikgitarre, Mandoline und einer Floor Tom wechselt und ihre zarte Stimme, die mit der ihres Gitarristen verwebt, zaubert ein Lächeln auf unsere Gesichter. Diese sanften Klänge leiten den Abend behutsam ein.
Ganz anders sind Pinegrove: Nachdem einige Bandmitglieder ihre Technik und Instrumente selbst aufbauen, hüpft die Band mit Augenzwinkern zu Peter Gabriels Sledgehammer auf die Bühne und legt direkt los. Schnell wird mir bewusst, dass Pinegrove in erster Linie eine Live-Band sind: Sänger Halls bombastische Energie sowohl an der Gitarre als auch in den Vocals wirken auf Platte zurückhaltend und gezähmt. Auf der Bühne ist er frei, das hier ist sein Metier und er lässt sich fallen, auch wenn ihm die Stimme bricht. Mit ihm fällt die Band, souverän und selbstsicher finden die fünf Musiker und Musikerinnen in einem Sound aus Pop-Punk, Emo und Folk zusammen. Diese Musik speist sich aus rohen Emotionen, viele Songs sind im Arrangement für die Bühne verändert und gehen mehr nach vorne. Diese Band spielt in der ganz großen Liga, mit Pfiff, einer unglaublichen Liebe zum Detail und einem großartigen Gefühl für Timing strahlt jeder und jede einzelne eine unglaubliche Lässigkeit aus. Besonders bemerkenswert ist Bassistin Megan Bird, die während des gesamten Sets konsequent nur ihren Daumen zum Spielen benutzt.
Durch knapp zwanzig Songs rast die Band, das Publikum braucht nach jedem eine Sekunde zum Verarbeiten, ehe es in tosenden Applaus ausbricht. Ehrfurcht macht sich im gut gefüllten Raum breit, als Hall den Fan-Favourite Aphasia solo beginnt ist es totenstill. Eine richtige Zugabe gibt es nicht, stattdessen stellt der Sänger und Gitarrist seine Bandkollegen und -Kolleginnen vor und erklärt, dass sie nun am Ende ihres Sets angelangt seien, aber einfach mit ihrer dreiteiligen Zugabe weiter machen würden. Nach New Friends bedankt sich Hall für den Respekt, der ihnen hier im Gleis 22 entgegen gebracht wurde und die Band maschiert sichtbar euphorisch von der Bühne. Natürlich zu Sledgehammer von Peter Gabriel.
Text: Mathea Pittelkow Fotos: Fiona Thiele