Haldern Pop – 2019 schreiben wir die 36. Ausgabe des Musikliebhaber-Festivals am Niederrhein. Um die 7000 Besucher pilgern jedes Jahr ins kleine Dorf Haldern, um 3 Tage tolle Stimmung, Camping-Atmosphäre, aber vor allem natürlich Musik zu genießen, die man nicht an jeder Ecke serviert bekommt. Haldern-Besucher bleiben dem Festival treu. Für nicht wenige liegen die Besuche sogar im zweistelligen Bereich. Für mich ist es immerhin auch schon das 8. Mal. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber generell gilt: Wer einmal da ist, kommt gerne wieder. Und das trifft nicht nur auf die Zuschauer zu, finden sich im Line-Up doch neben absoluten Geheimtipps und Newcomern, auch immer Doppel- und Mehrfachtäter, was in diesem Jahr unter anderem bei Sophie Hunger, Father John Misty oder Loyle Carner der Fall ist.
Rein hypothetisch gesprochen: Gäbe es keine Musik auf dem Haldern, würde sich das ganze wahrscheinlich trotzdem lohnen. Hier kommen Assoziationen von familiärem Zeltlager, Dorffest und Urlaub auf dem Bauernhof umgeben von Feldern, zwischen Kühen, Pferden und Maisfeldern auf. Die kleine aber wirklich feine Auswahl an Essens- und Getränkeständen und die Möglichkeit, neben dem eigenen Auto zu campen, bedeuten für Festivalverhältnisse Wohlfühlfaktor 100. Das Spiegelzelt, eine der wohl schönsten Konzertlocations, und die Lichterketten, die im Biergarten über den Palettenkonstruktionen zum Sitzen leuchten, sind vorallem im Halbdunkel einfach schön anzusehen und tun ihr übriges um eine gemütliche Wohnzimmeratmosphäre im Freien zu schaffen. Es muss ja auch nicht immer direkt eine Kunstinstallation oder Feuershow sein. Hier besinnt man sich dann doch auf das Wesentliche – Musik.
Der Donnerstag, erster Tag des Festivals, startet für mich im Auftrag der ultimativen Catchiness im Dorf, wo die Pop Bar, die Kirche und das Jugendheim als zusätzliche Konzert-Locations abseits vom Festivalgelände genutzt werden. Wer denkt, so früh am Tag sei es bestimmt noch relativ leer, liegt falsch. Um 14 Uhr platzt die Pop Bar, wo die Band Whenyoung spielt, bereits aus allen Näten. Die irische Band macht Musik nach gewohntem Pop/Rock Schema, das durch die eingängigen Melodien und die glockenklaren Stimme von Frontfrau Aiofe Power in Sekundenschnelle mitreißt. Würde man die Texte schon kennen, bestünde hier allerhöchste Mitsinggefahr (Songtipp: Future). Hätte auf der Hauptbühne auch funktioniert! Mit der Idee, nach dem Whenyoung-Gig schnell ins Jugendheim zu flitzen, um die Band Sea Girls zu sehen, war ich wohl nicht alleine. Die Schlange zog sich, als die Location bereits rappelvoll war, immer noch durchs halbe Dorf. Keine Chance für Spätentschlossene! Für mich eine klare Fehlentscheidung, was den Spielort angeht. Die britische Band macht Indie-Rock, wie er im Buche steht. Irgendwo zwischen The Kooks und The Wombats mit Killers-Anleihen wäre es kein Problem gewesen eine weitaus größere Menge an Menschen zu späterer Stunde um den Finger zu wickeln. Und mal ehrlich: Eine Band, die in der BBC „Sound of 2019“- Liste zu finden ist; das geht am gewissenhaft vorbereiteten Haldern-Zuschauer nicht vorbei! Dank Akkreditierung durfte ich mich dann doch noch für die letzten vier Songs des Sets unter die Menge mischen. Springende Menschen, fliegende Haare, schwitzig-glückliche Gesichter in einem (zugegebenermaßen eher mäßig schönen) Jugendheim. Der Boden bebt und um die Holzlatten an der Decke könnte man auch ein wenig Angst haben. Das Set wird mit Call Me Out und einem beinahe-Moshpit mit Frontsänger Henry Camamyle inmitten der Menge beendet. Sieht man auf einem Indie-Konzert auch nicht so häufig!
Kurz vor dem Festival noch als Special Guest enthüllt, stehen am Abend zur besten Uhrzeit die Giant Rooks auf der Hauptbühne. Die Art-Pop Band aus Hamm ist im Moment omnipräsent; und das nicht nur in Deutschland. Ausverkaufte Tourneen in UK sprechen für sich. Aber warum eigentlich „Special Guest“ mag sich der ein oder andere fragen. Was macht diese Band so besonders? Der Grund liegt auf der Hand. Wie bei kaum einer anderen Band lassen sich die Karriereschritte anhand ihrer Auftritte auf eben diesem Festival so gut nachvollziehen, wie bei den Giant Rooks, die ihre erste EP sogar auf dem festivaleigenen Recordlabel veröffentlichten. Die persönliche Auftritts-Historie startete 2016 dann auch erstmal im Tonstudio, ein Rahmen, wie er intimer kaum sein kann. Die Hälfte des Publikums bestand aus Familie und Freunden. Ich erinnere mich noch, wie ich hellauf begeistert mit den Worten „die werden noch ganz groß“ im Camp vom Auftritt erzählte (ich geb’s ja zu, für die Vorhersage klopf ich mir ab und an immer noch auf die Schulter). Im Jahr darauf dann der nächste Schritt, ein Auftritt im Spiegelzelt. Es regnete Bindfäden vom Himmel, was die Leute, die nicht mehr ins Zelt gekommen sind, nicht davon abhielt den Auftritt auf der Außenleinwand zu verfolgen. Neue Songs, verfeinerte Arrangements und eine ordentliche Portion Professionalität obendrauf. Für die Jungs, die gerade frisch aus der Schule kamen, unglaublich beeindruckend. Was noch fehlte, war also nur ein Auftritt auf der Mainstage, den es dann in diesem Jahr zu bestaunen gab. Mit einem derartig internationalen Sound brauchen sich Giant Rooks definitiv nicht hinter anderen Größen der Branche zu verstecken.
Eigentlich hätte Dermot Kennedy, der wohl „mainstreamigste“ Act des diesjährigen Line-Ups, den Donnerstagabend auf der Mainstage beschließen sollen. Da er allerdings aus gesundheitlichen Gründen, wie auch Julien Baker, kurzfristig absagen musste, sprang kurzerhand der Schweizer Faber ein, den das Publikum auch schon aus dem Jahr 2017 kannte. Mit seinem Balkan-Pop auf Liedermacherart und hoch gesellschaftskritischen Texten trifft er den Zeitgeist und überzeugt das Halderner Publikum. Der frisch veröffentlichte Song „Das Boot ist Voll“, der nach kurzer Zeit mit neuem Chorus noch einmal rereleased wurde, durfte natürlich nicht fehlen und wurde von Faber alleine in einer reduzierten Version nur mit Akustikgitarre vorgetragen. Intensiver hätte es nicht sein können, die Message sitzt. Als Zugabe gibt es den ehemaligen Protestsong „Bella Ciao“ inmitten des Publikums auf dem bunt erleuchteten Reitplatz.
Im Gegensatz zum letzten Jahr ist meiner Meinung nach die Mainstage wieder etwas spannender besetzt und erfreulicherweise auch teils in der Hand starker weiblicher Acts. Die Schweizer Sängerin Sophie Hunger tritt am Freitagabend mit einem Glas Rotwein auf die Bühne und greift damit wohl eher unbewusst einen Trend auf, der sich dieses Jahr auf dem Haldern bemerkbar macht. Wein statt Bier. Wohin man auch sieht, genießen die Menschen mit einem Glas Weißwein in der Hand vom Stand der Generation Riesling die Konzerte. Wirkt schon etwas spießig, aber irgendwie ist das hier sowieso der Ort um seine eigene Spießigkeit (auf sympathische Weise) nach außen zu tragen. Hätte man Hungers Musik in früheren Jahren noch als eine Melange aus Folk, Pop und Jazzelementen beschrieben, ist es mittlerweile fast unmöglich in wenigen Worten eine treffende Bezeichnung zu finden. Ihr Sound ist definitiv elektronischer und auch rockiger geworden. Eine Coverversion vom französischen Chanson „Le Vent Nous Portera“ bringt sie aber auch völlig unaufgeregt im Set unter und sorgt für einen Gänsehautmoment kurz bevor Sie sich mit ihrem Lead-Gitarristen während eines Gitarrensolos gegenseitig über die Bühne schiebt. Ziemlich riskant, aber das Solo sitzt und Hunger zeigt nur einmal mehr, was für eine Rampensau sie ist und welche grandiosen Musiker sie an ihrer Seite hat.
Um einmal bei den Frauen zu bleiben. Als eines meiner persönlichen Highlights stellt sich Kat Frankie heraus, die am Samstagnachmittag die Hauptbühne mit ihrem avantgardistischen Indie-Pop bespielt. Die Band ganz und gar in rot gekleidet (wer hat sich denn da am Nord-Keyboard orientiert) sorgt für einen Farbklecks auf der Bühne und ist rein optisch schon einmal ein Hingucker. Nachdem Kat Frankie 2017 mit Olli Schulz und 2018 mit Clueso schon auf der Haldern Bühne zu sehen war, ist sie nun endlich mit ihrer eigenen Band vertreten. Das wurde auch Zeit. Ihrer Freude darüber verleiht sie auch direkt Ausdruck, was beim aufmerksamen Publikum natürlich gut ankommt und nur dazu führt, dass sie noch mehr Beifall als ohnehin schon erhält. (Songtipp: Home) Dass das Publikum hier generell etwas aufmerksamer als auf anderen Festivals zu sein scheint, wird auch bei Charlie Cunningham klar, der bereits 2017 einen Auftritt in der Kirche absolvierte. Ein Singer-Songwriter, der mit seinem Flamenco-Gitarrenspiel bezaubert und somit eine Soundästhetik schafft, die vielleicht noch an José Gonzales erinnert aber durch die fließenden Lyrics doch irgendwie ziemlich eigenständig und einzigartig ist (Songtipp: Minimum). Dass das in einer Kirche funktioniert verwundert nicht. Dass er es allerdings schafft an einem Nachmittag das Publikum vor der Hauptbühne in seinen Bann zu ziehen und tosenden Beifall zu ernten, nachdem die einsamen Klänge seiner Konzertgitarre losgelöst von der Band über den Reitplatz schweben, ist schon etwas Besonderes. Da macht es auch überhaupt nichts, wenn er wegen eines störenden Feedbacks einen Song nochmal neu beginnen muss.
Dass man hier auch seinen musikalischen Horizont erweitern kann, ist bekannt. Ukrainischer Rap von Alyona, Alyona, Orchester und Chor in der Kirche, brachialster Post-Punk von den Idles, die Liste ist eigentlich endlos. Zugegeben; ich war in diesem Jahr nicht ganz so experimentierfreudig unterwegs. Ich hatte sogar überlegt, ob ich mir das Set von Loyle Carner am Samstagabend überhaupt ansehen soll. Eine Stunde Rap stellte ich mir irgendwie wenig abwechslungsreich vor. Zum Glück tat ich es doch. Auf der Bühne gab es wenige Instrumente, dafür brachte Loyle Carner ein ganzes Bühnenbild, das ein stilisiertes Wohnzimmer darstellte, mit. Eingerahmte Fußballtrikots hingen an der Wand und ein Retro-Ohrensessel fand auch seinen Platz. Dazu wirkte der 24-Jährige einfach unheimlich bodenständig und sympathisch. „The only good thing about the UK right now is my mother“. Ja – Anti-Brexit-Statements bekam man dieses Jahr zur Genüge zu hören. Und so brach auch aus Loyle Carner beim Verlassen der Bühne noch ein letztes, fast schon verzweifeltes „FUCK BREXIT“ heraus. Das wirkte nicht aufgesetzt, sondern ziemlich authentisch. Musikalisch wurden bei seinem Set durch die vielen Features mit u.a. Jorja Smith oder Tom Misch auch alle diejenigen, die sich im Genre Hip-Hop vielleicht nicht so ganz zuhause fühlen, trotzdem mit eingängigen Chorus-Lines versorgt und abgeholt. Bäm. So unterhält man ein Publikum. Definitiv ein weiteres Highlight!
Klitzekleine Enttäuschungen gab es dennoch. So machte ich mich z.B. am Freitag um 11 Uhr auf um die australische Singer-Songwriterin Alex, the Astronaut in der Kirche zu sehen. Ich hatte hohe Erwartungen, denn von ihrem authentischen Folktronica-Sound, mit dem sie ihre Texte der Coming-Of-Age Thematik unterfüttert, versprach ich mir den perfekten Start in den Festivaltag. Leider stellte sich heraus, dass eine E-Gitarre als Rythm-Guitar und ihre wortreichen Texte, die teils in den Sprechgesang fließen, soundmäßig gar nicht gut in der Kirche funktionieren und man eigentlich nichts verstand. Da sie dafür aber selbst am wenigsten konnte, gibt’s von mir trotzdem eine klare Hörempfehlung (Songtipp: Not Worth Hiding). Nachdem Durand Jones and the Indications und Júníus Meyvant die ersten beiden Nachmittage auf der Hauptbühne mit entspanntem Soul-Pop einleiteten, war ich zum Ende des Festivals bei Michael Kiwanuka nun wirklich nicht mehr von diesem Genre zu begeistern. Qualitativ gab es natürlich nichts zu meckern, wundervolle Musiker, toller Klang, dabei aber musikalisch einfach unvariabel. Ich verabschiedete mich nach 4 Songs vom Reitplatz und kam erst zum Abschluss mit Balthazar wieder. Was ich mir im Vorfeld als relativ unspektakulären Altherren-Indie vorstellte, überraschte dann doch durch seine gediegene Eingängigkeit. Bei Indie-Rock, der sich durch beeindruckende Gesangsharmonien auszeichnete und gegenüber den Studioversionen irgendwie auch ein Stück energetischer wirkte, tanzte man dem Festivalende entgegen. Posaune und Violine, die durch Effekte eine breite Soundfülle erreichten, legten stellenweise bedrohlich/mysteriöse Klangflächen unter die Tracks.
Im Kopf bleiben die während des Songs „Blood Like Wine“ zur Zeile „Raise your glass to the nighttime and the ways“ erhobenen Weingläser des mitsingenden Publikums – und mir bleibt die Vorfreude auf das nächste Jahr.
Text: Laura Schiller
Fotos: Laura Schiller & Jan Boltendal