Metric haben sich 1998 in New York gegründet, doch zogen sie schnell wieder zurück nach Kanada, da die Mieten nach einer Tour zum Debütalbum nicht mehr finanzierbar waren.
„Synthetica“ ist nun das fünfte Studioalbum der kanadischen Indierocker um Sängerin Emily Haines.
Laut Haines geht es im Album um „das Zuhause-eingesperrt-sein/-bleiben und dem damit verbundenen psychischen Unwohlsein aufgrund fehlender externer Stimulationen“. Des Weiteren beschäftigt sich die Sängerin auf dem Album mit „dem Grübeln, ob das menschliche Hirn durch künstliche Versionen von natürlichen Erfahrungen verändert wird“ und wundert sich „inwiefern man sich in einer Zeit der fortwährenden Ablenkungen noch lebendig fühlen kann“. Man kann auch die Thematik herunterbrechen auf ein Wetteifern von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Natürlichkeit ist dabei sich zu einem Ideal zu entwickeln und alles Künstliche auf der Welt ist schuld daran, dass die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, aber ist dem wirklich so?
Ebenso ist es interessant, wie aktuell die bereits genannten Themen während der Coronapandemie wurden und auch vermutlich jeder damit Berührungspunkte hatte. Es sind Themen, die unter anderem in die Bereiche der Psychologie, Medienpädagogik und sogar Philosophie fallen und Fragen, die gar nicht mal so einfach beantwortet werden können.
Nun aber erstmal zum musikalischen Teil der Rezension.
Die erste Singleauskopplung „Youth Without Youth“ ist eine der selteneren eindeutigen Rocknummern der Platte und besticht durch einen treibenden, aber auch schwerfälligen Vibe – was auch zum Thema passt. Es geht nämlich um einen zerrütteten Sozialstaat durch die Augen einer benachteiligten Jugend. Haines besingt eindrücklich die regelmäßig verübten kriminellen Taten einer Jugendgruppe und zeigt auf wie hilflos die Polizisten sind, diese von jenen Taten abzuhalten – Also über eine Jugend ohne unbeschwerte Jugend, die natürlich das anstrebenswerte Ideal wäre.
In Zeilen von „Breathing Underwater“, wie „Is this my life? Am I breathing underwater?“ und „Nights are days. We’ll beat a path through the mirrored maze. I can see the end. But it hasn’t happened yet.“ wird vermutlich über das Eingesperrtsein Zuhause und den zugehörigen Gefühlen wie beispielsweise dem Herbeisehnen des Endes gesungen. Im Refrain geht Haines viel in die Kopfstimme, weshalb der Song persönlicher und emotionaler aufgefasst wird. Und flackernde Synthies schweben im Refrain durch den Raum, die sich mit dem Atmen unter Wasser verknüpfen lassen können. Ebenso sind das unerwartete Gitarrensolo und das treibende Drumming ein Highlight, welche dem eher poppig angelegtem Song zusätzlich emotionale Ausdruckskraft verleihen.„Breathing Underwater“ ist aufgrund dieser gelungene Instrumentierung sicherlich einer der besten Songs des Albums.
Es ist manchmal gar nicht so leicht Drogen zu widerstehen, meint Haines im Songtext zu „Synthetica“, dem namensgebenden achten Song des Albums. Vor allem synthetische Drogen sind besonders gefährlich und bieten wieder einen Anlass sich mit der „Künstlichkeit“ in unserer Welt auseinanderzusetzen. Haines distanziert sich in dem Song von Drogen und ihrer Künstlichkeit „Hey, I’m not synthetica. I’ll keep the life that I’ve got. So hard, hard to resist. Synthetica. No drug is stronger than me. Synthetica.“ – während ambivalent dazu wieder Synthies im Refrain präsent werden, obwohl natürlich die schöne Gitarrenmelodie vordergründig in der Uptempo-Nummer wahrzunehmen ist.
„The Void“ beginnt mit einem brachialen, verfremdeten Sound aber biegt dann doch in einen tanzbaren Indiesong ab – besticht hier durch einen interessanten Flow, weil die Instrumentierung in der Strophe nicht so sehr zurückfährt wie gewohnt und somit eine interessante Spannung auch über die Strophen hält. Ob die Sounds zu Beginn dem Song wirklich zuträglich sind – darüber lässt sich jedoch streiten.
„Speed The Collapse“ regt wiederum mit den Zeilen „Built a mansion in a day. Distant lightning, thunder claps. Watched our neighbor’s house collapse. Looked the other way.“ oder „A comedown of revolving doors. Every warning we ignored. Drifting in from distant shores. The wind presents a change of course.“ ordentlich zum Nachdenken an. Diese Zeilen sind nach den Vorkommnissen vom 20. Mai 2022 in Paderborn und Umgebung besonders treffend. Und man fragt sich, ob denn wenigstens in Paderborn ein Umdenken stattfindet und die Dringlichkeit des Klimaschutzes mehrheitlich erkannt wird und das Wichtigste – ob auch gehandelt wird. Oder werden jegliche Warnungen, wie die sich mit geringem zeitlichen Abstand häufenden Naturkatastrophen, einfach wieder abgetan? Es bleibt zu hoffen, dass unser „Paderborner Wind“ einen Change of Course repräsentieren kann – dass die Menschen in Paderborn nicht vergeblich diesem zerstörerischem Tornado ausgeliefert waren. Ein Song, der mit seiner Thematik aktueller nicht sein könnte.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass „Synthetica“ ein rundes Indierock-Album geworden ist und jeder, der etwas mit dem Genre anfangen kann, sollte es wagen in das Album reinzuhören. Es ist der Band gelungen, zu ihrem treibenden Indierock-Sound und passend zum Stimmklang und Ausdrückvermögens ihrer Sängerin eine klanglich passende Erweiterung zu finden, die ihre Musik noch differenzierter und expressiver macht. Auch wenn Kleinigkeiten nicht geglückt scheinen kompensieren die Stärken der Band für einen guten Gesamteindruck des Albums.
Um nun noch zur Ausgangsfrage zurück zu kommen – ist denn nun alles Künstliche zu verteufeln und das Natürliche immer gut? Nein natürlich nicht – alleine die Synthies, die sich in diesem Album gut in das Klanggeschehen einbinden zeigen auf, dass Künstlichkeit bereichern kann und der Tornado symbolisiert, dass Natürlichkeit verheerend sein kann. Alles im Leben hat seine Vor- und Nachteile, seine schlechten Seiten aber auch seine Chancen. Möglicherweise ist es auch nur eine Frage der Perspektive und Herangehensweise, inwiefern sich etwas gut oder schlecht auswirkt. Und vielleicht sind Natürlichkeit und Künstlichkeit zwei Gegensätze, die sich gegenseitig bedingen und deshalb könnte es sinnvoll sein sie beide offen zu empfangen, sodass sie gemeinsam die Wirklichkeit formen können, ohne dass man sich selbst mit Wertungsfragen belastet. Es ist nicht die klare und einfache Antwort auf die Ausgangsfrage, die man sich vielleicht erhofft hat, aber was genau ist denn schon klar und einfach – muss die Antwort überhaupt so sein?
Text: Marcel Sturm